„Wir sehen eine Branche, die wächst“
Der (T)Exodus der europäischen Spinner, Weber und Stricker begann schleichend in den 1970er-Jahren: Kunden wanderten ab, Preise fielen, Krisen schüttelten. Wer bis in die 90er nicht von der Globalisierung fortgerissen wurde, ging spätestens 2008 mit der Weltwirtschaftskrise in die Knie. Doch inzwischen „wachsen“ europäische Fasern wieder um die Welt. Kaum einer weiß das besser als Lutz Walter, der als Abteilungsleiter Innovation & Aus- und Weiterbildungspolitik bei EURATEX, dem Dachverband der europäischen Bekleidungs- und Textilindustrie, von Brüssel aus einen guten Blick auf die Branche hat.
Herr Walter, verraten Sie uns: Wie steht es um die Textil- und Bekleidungsindustrie in Europa?
Für die meisten ist es inzwischen kein Geheimnis mehr: Wir sehen ganz klar eine Branche, die wächst. Wer hätte das gedacht, nach allem, was die letzten Jahrzehnte auf uns niedergegangen ist? Und dann noch der – selbst für eine krisenerfahrene Branche wie die unsere – katastrophale Absatzeinbruch 2008/09 infolge der Weltwirtschaftskrise. Das war ein echter Wirkungstreffer, denn wenn Menschen sich Sorgen machen, denkt keiner daran, seinen Kleiderschrank zu füllen oder eine neue Couch zu kaufen – da heißt es sparen. Die Umsätze brachen damals innerhalb eines Jahres um 21 Prozent ein. Manch einer wird sich da vielleicht gewünscht haben, man könne aus Stroh doch Gold spinnen . Die Zahlen belegen aber auch die dann allgemein gute Entwicklung seit 2009: Da lag der Gesamtumsatz der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie noch bei 155 Milliarden Euro, 2017 schon bei über 180 Milliarden.

Lutz Walter – Quelle EURATEX
Wie kam es, dass sich der textile Faden nun doch wieder von Europa aus munter um die Welt spinnt?
Da gibt es mehrere Gründe. Zum einen haben sich viele Firmen mit technischen Textilien attraktive neue Zielgruppen erschlossen, darunter umsatzkräftige Abnehmer aus Branchen wie Luft- und Raumfahrt, Automobil, aber auch Bau und Medizin. Diese Diversifizierung tut der ganzen Branche gut. Früher hing man zu stark von den Endanwendermärkten ab, also von der Mode, ihren Trends und Zyklen. Das hat sich mit der steigenden Nachfrage nach technischen Textilien geändert. Auch hier sprechen die Zahlen für sich: 2008 lag der Produktionswert der technischen Textilien noch bei 14 Milliarden, 2016 schon bei etwa 18 Milliarden Euro.
Also sind die technischen Textilien der Schlüssel zum Umsatz-Glück?
Ganz so einfach ist es nicht, denn natürlich fertigen nun nicht alle europäischen Textilhersteller Filtergewebe und Flugzeugbauteile. Das wäre auch gar nicht möglich. Dazu muss man verstehen: Von der Bekleidungsherstellung zur Produktion von Stoffen für den technischen Einsatz ist es ein sehr weiter Sprung. Da sagt kein Weber, Spinner oder Stricker mal eben so: „Na, dann stelle ich heute Haute Couture her und morgen Reifencord.“. Vor allem die europäischen Bekleidungshersteller im Luxussegment haben während der mageren Jahre eben auch enormes Durchhaltevermögen bewiesen. Heute profitieren sie von einem wachsenden und nachfragestarken Luxusgüterbereich mit interessanten Margen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die europäische Textilbranche durch ihre Krisenerfahrenheit und ihr Durchhaltevermögen, aber auch durch Diversifizierung und eigene Globalisierungsanstrengungen widerstandsfähiger geworden ist gegen Zyklen und Konjunktureinbrüche. Der Branche sollte auch die sich abzeichnende Konjunkturdelle in Europa keine allzu großen Kopfschmerzen bereiten, denn ihre Exportmärkte reichen inzwischen weit über den EU-Binnenmarkt hinaus.
Wie steht es um die Exporte?
2008/09 lagen die europäischen Ausfuhren, also jene aus dem EU-Binnenmarkt hinaus, bei weniger als 20 Prozent, heute nähern sie sich 30 Prozent des Branchenumsatzes. Das entspricht einem Zuwachs von knapp 60 Prozent in den letzten zehn Jahren. Vor allem Italien, Frankreich und Deutschland sind hier die Treiber, sowohl bei Bekleidung als auch bei technischen Textilien. Und es wird noch interessanter, wenn man an den Beginn der Statistik zurückgeht (EURATEX erfasst die europäischen Textilbranchenwerte seit 2004; Anm. d. Verf.): Da lagen die Exporte bei rund 15 Prozent. Das heißt: Wir stehen heute viel besser da als vor der Wirtschaftskrise 2008/09.
Deutschland hat traditionell eine hohe Dichte an kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) im Textilbereich. Profitieren die von der guten Entwicklung?
Eindeutig ja. Und das nicht nur in Deutschland. Von der globalen Nachfrage nach technischen Textilien profitieren kleine wie große Textilfirmen auch in kleineren Länder wie Tschechien, Polen oder Portugal.
Ist Kleinteiligkeit generell ein Vorteil?
Ich denke eher ja. Nehmen Sie die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie: Als zweitgrößte Konsumgüterbranche des Landes nach dem Ernährungsgewerbe beschäftigen von den rund 1 300 mittelständischen Betrieben über die Hälfte weniger als 100 Mitarbeiter – und weniger als zehn von ihnen haben mehr als 1 000 Beschäftigte. Solche Unternehmen sind seit Generationen im Familienbesitz. Die sind nicht nur krisenerfahren, sondern ihre Kleinteiligkeit verschafft ihnen eine außerordentliche Agilität und Flexibilität, sich an verändernde Märkte anzupassen. Inzwischen haben sich viele familiengeführte Branchenunternehmen durch ihr langfristiges und strategisches Denken hervorragend in Nischen eingerichtet. Das sind die berühmten Hidden Champions mit Multimillionen-Umsätzen, deren Namen schon in der nächsten Stadt, keine zehn Kilometer entfernt, kaum einer kennt. Ein Kollege von mir nennt solche Firmen liebevoll „Pocket-Multionationals“.
Titelbild „Textilfäden“ (Quelle: Pixaby/TheAndrasBarta)