Olympiasiegerin und Para-Sportlerin Dr. Ilke Wyludda bei den Werfertagen / Quelle: Ilke Wyludda

Textilprothesen im Medaillenrennen bei den Paralympics

Derzeit finden in Peking die Paralympics statt. Zahlreiche Athletinnen und Athleten gehen dort wieder mit High-Tech-Prothesen aus Fasern auf Medaillenjagd. Für die textilen Helfer interessiert sich auch Ilke Wyludda. Die Olympiasiegerin nahm nach einer Oberschenkel-Amputation schon selbst an den Paralympics teil. Anruf bei einer Olympionikin, die sich mit der Bedeutung von Fasern im Spitzensport fast so gut auskennt wie mit Medaillen.

„Ich schaue mir ganz genau an, welche Prothesen bei den Paralympics zum Einsatz kommen“, sagt Ilke Wyludda. „Die Technik hat sich in den letzten Jahren unglaublich weiterentwickelt.“ Man merkt der gebürtigen Leipzigerin sofort an: Hier fiebert nicht nur eine ehemalige Profisportlerin mit, hier blickt eine Kennerin auf die Faser-Hilfsmittel der Para-Sportlerinnen und -Sportler. Deren derzeitige Wettkampf-Gefühlslage kennt Wyludda aus eigener Erfahrung. 1996 tritt sie bei den Olympischen Spielen in Atlanta an. 69,66 Meter wirft sie die rund ein Kilo schwere Diskusscheibe über den olympischen Rasen: Gold-Medaille! (Hier ein Qualifikationswurf) Wenige Jahre später beendet sie ihre aktive Sportkarriere, beginnt ein Medizinstudium. 2010 dann der Einschnitt: Wegen einer Infektion wird ihr der rechte Oberschenkel amputiert. Von nun an sind Prothesen Teil ihres Lebens. In dem Sanitätshaus, in dem sie angefertigt werden, lernt sie Rocco Bartel und Jörg Schad kennen. Bartel ist Orthopädie-Technikmeister, Schad Techniker – beide sind sie Spezialisten für Hilfsmittel aus Faserverbund. Noch ahnen die drei nicht, dass es der Startschuss für ein Faser-Olympisches-Erfolgstrio ist.

Olympiasiegerin und Para-Sportlerin Dr. Ilke Wyludda bei den Werfertagen / Quelle: Ilke Wyludda

Olympiasiegerin und Para-Sportlerin Dr. Ilke Wyludda bei den Werfertagen / Quelle: Ilke Wyludda

„Handicap als Herausforderung“

Anderthalb Jahre nach der Operation flammt in Wyludda der sportliche Ehrgeiz wieder auf. „Ich wollte mein neues Handicap nicht als Einschränkung sehen, sondern als Herausforderung“, sagt sie. Ihre Wettkampfpremiere sollen die Paralympics 2012 in London sein. Doch dort kann sie in ihrer Paradedisziplin Diskus nicht antreten, weicht deshalb auf Kugelstoßen aus. Das hatte sie zwar früher auch trainiert, sich darin aber nie auf olympischem Niveau gemessen. Doch Wyludda ist eine Kämpferin, sagt: „Wenn ich etwas anfange, dann will ich nicht nur mitmachen.“ Mitmachen sollen damals auch die Faserverbund-Techniker Bartel und Schad. Ein viertel Jahr vor den Paralympics fragt Wyludda sie: „Könnt ihr mir helfen, eine Prothese für die Paralympics zu entwickeln?“ Sie können.

Auf der Suche nach der perfekten Faser-Lösung

Von nun an treffen sich die drei regelmäßig. Wyludda benötigt unter anderem einen speziellen Wurfstuhl, von dem aus sie die Kugel im Sitzen stoßen kann. Das optimale Material dafür ist schnell gefunden: Carbonfasern. „Im Sportprothesen-Bereich quasi ein Standard-Material“, sagt Bartel. Das liege zum einen daran, dass Carbonfasern selbst bei geringer Materialmenge fest und leicht zugleich seien. Außerdem, so Bartel, würden sie Energie sehr gut aufnehmen und wieder abgeben. „Man kann sich das ein bisschen wie bei einer Sprungfeder vorstellen.“ In der Regel sind die Prothesen Einzelanfertigungen, individuell zugschnitten auf die jeweilige Sportart sowie Sportlerin oder Sportler. „Das sind keine Prothesen, mit denen man im Alltag gemütlich spazieren geht“, sagt Bartel.

Monatelang tüfteln Wyludda und die beiden Faserverbund-Spezialisten an der perfekten Faser-Lösung. Die Prototypen, die sie bauen, testet Wyludda auf dem Sportplatz, bringt dort die kleinen Carbonfasern richtig „ins Schwitzen“. Als erfahrene Sportlerin weiß sie genau, worauf es ankommt. Sie findet Schwachstellen, notiert Verbesserungsvorschläge. Beides bespricht sie mit den Technikern. Die bauen daraufhin einen neuen Prototyp, dann geht das Spiel wieder von vorne los. „Das war Basteln auf hohem Niveau“, erinnert sich Olympiasiegerin Wyludda. Bis eine Woche vor dem Abflug nach London feilen die drei am paralympischen Carbon-Wurfstuhl.

Stunde der Wahrheit

Dann kommt die Stunde der Wahrheit. Als Olympiasiegerin ist Ilke Wyludda bei den Paralympics zwar die Erfahrene. Doch im Behindertensport ist sie ein Neuling. Am Ende landet sie auf dem 5. Platz. War sie enttäuscht? „Ich finde, ich habe mich gut geschlagen“, sagt sie heute. In den Folgejahren holt sie bei Europameisterschaften Silber mit der Kugel und bei der Weltmeisterschaft 2015 Bronze im Diskuswurf. Ihr ultimativer Tipp, wie man es aufs Treppchen schafft: „Mit Freude an den Wettkampf gehen“, sagt die Olympionikin, die seit 2011 als Anästhesistin arbeitet.

Mit Sensoren den Prothesen-Tragekomfort verbessern?

Wyludda und Bartel sind inzwischen Freunde. Bis heute brüten die beiden über neuen Prothesen und Verbesserungen für externe Carbonfaser-Hilfsmittel. Das Sanitätshaus, für das Bartel und sein Kollege Schad damals tätig waren, wurde irgendwann von der Firma REHA aktiv 2000 aus Jena übernommen. Dort arbeitet Technikmeister Bartel inzwischen auch an Prothesen aus Hanf-, Flachs- und Basaltfasern. Doch eine Frage treibt ihn derzeit besonders um: Lässt sich die Phase des Trial-and-Error auf der Suche nach der richtigen Prothesenform mit Sensoren abkürzen? Und so der Tragekomfort verbessern? „Bisher wird bei der Herstellung von Prothesen vor allem auf Erfahrungswerte zurückgegriffen“, erklärt Bartel. Was aber wäre, wenn Sensoren im Inneren des Faserverbunds in Echtzeit über den Zustand der Prothese Auskunft geben? Könnten sie helfen, Antworten zu liefern auf Fragen wie: Wo drückt die Prothese den Patienten? Wo kann man ihn entlasten? Wo wirken welche Kräfte wie stark?

Form von Fasern im Gedächtnis behalten

Dazu forscht Bartel mit Partnern wie dem Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik aus Chemnitz in einem vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekt. Darin geht es um spezielle Dehnungssensoren für Prothesen und Orthesen. Hinter der eingesetzten Sensortechnik steckt die ebenfalls am Projekt beteiligte Chemnitzer Firma FiberCheck. Geschäftsführer Tobias Meyhöfer und sein Team setzen dafür auf sogenannte Formgedächtnislegierungen (FGL). Dabei handelt es sich um Materialien, die bei Dehnung oder Temperaturwechseln ihren Zustand ändern. Aus Nickel oder Titan sind solche Legierungen bereits seit den 1980ern im Einsatz, zum Beispiel bei Stents, chirurgischem Werkzeug oder Zahnspangen. Doch FGL aus Metall lassen sich laut Meyhöfer technologisch nicht eins zu eins auf Textil übertragen. „Faserverbundwerkstoffe sind dehnbar“, sagt er. Und erklärt: „Für eine Dehnungsmessung, die Informationen aus dem Inneren einer Prothese aus Faserverbund liefern soll, brauchen wir Sensoren, die sich mitdehnen.“ Zwar gebe es bereits metallische oder gedruckte Sensoren für textile Prothesen, so der FiberCheck-Chef, doch deren Flexibilität sei begrenzt.

Bevor der patentierte Sensor Daten aus dem Inneren von Faserverbund-Prothesen liefert, wird er zunächst auf ein Vlies oder Gewebe aufgestickt / Quelle: Sascha Linke

Bevor der patentierte Sensor Daten aus dem Inneren von Faserverbund-Prothesen liefert, wird er zunächst auf ein Vlies oder Gewebe aufgestickt / Quelle: Sascha Linke

Echtzeit-Feedback für optimale Prothesen-Nutzung

Verbaut im Innern einer Carbon-Prothese, sollen die FGL-Dehnungssensoren in Echtzeit Belastungen und Entlastungen registrieren. Das heißt: Belastet der Patient die Prothese, ändert der FGL-Sensor seine Form; lässt die Belastung nach, kehrt er in seinen Ausgangszustand zurück. Fachleute nennen das Superelastizität. Dank ihr sollen die Sensoren Daten aus dem Inneren von Prothesen liefern, an die man bisher nicht rankommt. „Unsere FGL-Sensoren messen Widerstandsänderungen um das 2,5-fache stärker als herkömmliche Dehnungssensoren“, sagt Meyhöfer. Geht es nach ihm und seinen Projektpartnern, soll das Sensorsystem künftig per Ton oder Vibration mitteilen, wo sich Druckpunkte zwischen Körper und Prothese befinden, welche Körperhaltung optimal ist und wann eine Überlastung des Materials droht. Patienten, die den Umgang mit einer Prothese erlernen müssen, sollen so schneller in ihr neues Leben starten können. „Unser Ziel ist es, den Tragekomfort so angenehm wie möglich zu gestalten“, so Meyhöfer. Mit den Sensoren könnte sich künftig also das erfahrungsgestützte Trial-and-Error erheblich abkürzen lassen, das Olympionikin Wyludda und die Faserverbund-Techniker Bartel und Schad auf dem Weg zu den Paralympics betrieben.

Zwar läuft das Projekt noch bis Juni, doch die Prothesen-Demonstratoren zeigen bereits, wohin die Sensor-Reise geht / Quelle: Sascha Linke

Zwar läuft das Projekt noch bis Juni, doch die Prothesen-Demonstratoren zeigen bereits, wohin die Sensor-Reise geht / Quelle: Sascha Linke

Ronny Eckert

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