Former apprentice training in the VEB cotton spinning mill, Plauen/ Source: Wolfgang Schmidt

Textile Wende

Dieser Tage jährt sich der deutsche Mauerfall zum 30. Mal. Am 9. November 1989 fiel das Bollwerk, das 28 Jahre lang auf einer Gesamtlänge von fast 1.400 Kilometern nicht nur Deutschland entzweite, sondern auch die hiesige Textil- und Bekleidungsindustrie trennte.

Im November 1991 schrieb die Wochenzeitung „Zeit“: „Zehntausende von Frauen verlassen ihre Webstühle und Nähmaschinen, ihre Zeichenbretter und Schreibtische. Sie gehen zurück an den Herd. Doch sie gehen nicht freiwillig. Die ostdeutsche Textil- und Bekleidungsindustrie, für die sie gearbeitet haben, bricht zusammen. Über eine Viertelmillion Beschäftigte – vor allem Frauen – sind bereits entlassen.“ Den Kollaps der ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie beschrieb die Presse mit martialischen Worten, von „Aderlass“ war die Rede, von „Katastrophe“ und „Massenarbeitslosigkeit“. Und das nicht ohne Grund.

Fasern für die Völkerverständigung
Laut dem Verband der Nord-Ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie (vti) zählte die ostdeutsche Faserbranche noch im Frühjahr 1990 rund 320.000 Mitarbeiter, die in etwa 250 volkseigenen Betrieben (VEB) Nähgarne, Jeans oder Spitzenbordüren herstellten. „Der Exportanteil lag bei rund 60 Prozent; die Ausfuhren gingen hauptsächlich ins sogenannte sozialistische Wirtschaftsgebiet, in die BRD und andere westliche Länder“, erinnert sich Bertram Höfer, Initiator und Mitbegründer des vti.

Textile Ware aus dem Osten lag nicht nur in den Schaufenstern der Boutiquen in Ost-Berlin oder in Kaufhäusern in Cottbus, Halle und Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), sondern fand sich als Plauener Spitze oder Bettwäsche auch in den Katalogen der West-Versandhändler Otto und Quelle. „Man hat uns das Zeug aus den Händen gerissen“, sagt Höfer und lacht. Der ehemalige vti-Hauptgeschäftsführer war Forschungsleiter und einige Zeit Generaldirektor des Kombinats Baumwolle, mit rund 70.000 Beschäftigten eines der größten.

Aus VEB wird GmbH
Dann kam die Wende. Und mit ihr, sozusagen über Nacht, der Wechsel vom VEB zur GmbH, von planwirtschaftlich produzierenden Firmen zum freien Wettbewerb der Produkte und Preise. Der „Aderlass“ begann und die ostdeutsche Textil- und Bekleidungsbranche schrumpfte in der Folgezeit auf heute insgesamt etwa 16.000 Mitarbeiter zusammen.

oVEB-Massensterben: Auch weil ostdeutsche Exporte durch die Währungsunion massiv teurer wurden, mussten Tausende volkseigene Betriebe schließen / Quelle: Tama66 via Pixabay

VEB-Massensterben: Auch weil ostdeutsche Exporte durch die Währungsunion massiv teurer wurden, mussten Tausende volkseigene Betriebe schließen / Quelle: Tama66 via Pixabay

Absatzmärkte brachen weg, vor allem jene in den Ostblockstaaten, und auch die Globalisierung klopfte nun im Osten Deutschlands an. Die hatte in Westdeutschland ab 1970 schon über 200.000 Textil-Jobs gekostet. Ein Prozess, der in der vormaligen DDR nun im Eiltempo ablief. So heißt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung zum globalisierungsbedingten Textil-Strukturwandel: „In den ostdeutschen Bundesländern ging dieser […] in kürzester Zeit vonstatten; die Zahl der Beschäftigten der Textil- und Bekleidungsindustrie sank seit 1989 um neun Zehntel.“ Kein Wunder, dass „viele die Ost-Textilbranche damals für tot erklärten“, sagt vti-Gründer Höfer.

Alle Kunden weg – und nun?
Umso höher sei die Leistung all jener zu bewerten, so Höfer weiter, die in den schwierigen 90er-Jahren wettbewerbsfähige Textil- und Bekleidungsfirmen etablierten und zukunftsfähig ausrichteten. Darunter Gerald Rosner, Geschäftsführer der vor über 120 Jahren im thüringischen Apolda gegründeten Firma Strickchic. „Wenn von einem auf den anderen Tag alle Kunden wegfallen, ist das nicht so gut für eine Firma“, sagt Rosner halb im Scherz. Im Osten sei Strickchic der kleinste Branchenindustriebetrieb in seiner Region gewesen, heute der einzige. Wie das? „Ein Unternehmer muss jeden Tag Herausforderungen bewältigen; die Wende war zwar eine besondere, aber eben nur eine von vielen“, so Rosner.

oKratzt länger als andere Pullover: Qualität und Langlebigkeit der Strickware aus Apolda werden auch heute geschätzt, unter anderem als Seemanns-Troyer / Quelle: Strickchic

Kratzt länger als andere Pullover: Qualität und Langlebigkeit der Strickware aus Apolda werden auch heute geschätzt, unter anderem als Seemanns-Troyer / Quelle: Strickchic

Man habe sich seinerzeit auf das besonnen, was man könne: qualitative, langlebige Strickware fertigen. Und „Langlebigkeit“ hatte in der DDR einen konkreten Hintergrund: Weil sich die Bürger eine Wegwerfmentalität wirtschaftlich schlicht nicht leisten konnten, war Haltbarkeit auch von Kleidung ein hohes Gut. Designer im wiedervereinigten Deutschland erkannten die Wertigkeit der Strickware aus Apolda schnell. „Ab Mitte der 90er hatten wir zweistellige Zuwachsraten“, erinnert sich Rosner, dessen Strickware heute als Pullover, Jacken und Kleider in angesagten Designerläden in Berlin-Mitte hängt.

Kunstleder für Trabis
Ein weiteres Positiv-Beispiel für einen geglückten Wechsel in die Marktwirtschaft ist die Vowalon Beschichtung GmbH aus treuen in Sachsen. Als VEB Vogtländische Wachstuchfabrik Treuen stellte die Firma in der DDR Kunstleder für Tischdecken, Taschen, Schuhe und für die Sitze des berühmten Trabis her. Zehn Millionen Quadratmeter betrug die jährliche Produktionsmenge. „Das Niveau haben wir nach der Wende ab 2003 wieder erreicht“, berichtet Friedmar Götz, ehemaliger Vowalon-Geschäftsführer. Laut ihm waren gut laufende Geschäfte in der DDR und der Export ins westliche Ausland die Basis für den wiedererlangten wirtschaftlichen Erfolg.

Aber auch die Konzentration auf textile Nischen und eine intensive Zusammenarbeit mit Textilforschungsinstituten hätten die Existenz des Unternehmens gesichert, sagt Götz, der seit der Wende über 50 Millionen Euro in den Ausbau des Unternehmens investiert hat. Gibt es eigentlich unternehmerische Unterschiede zwischen Vor- und Nach-Wende-Zeit? „Zu DDR-Zeiten waren nie ausreichend Rohstoffe vorhanden, dafür Aufträge; nach der Wende gab es für die vielen neuen Rohstoffe erst mal kaum Aufträge“, sagt Götz, dessen Sohn Gregor 2008 die Vowalon-Geschäfte übernahm; ab 2016 kam Tochter Mareen als weitere Geschäftsführerin hinzu. Derzeit fertigen 230 Mitarbeiter jährlich etwa 15 Millionen Quadratmeter hochwertige Beschichtungen auf PVC- und Polyurethanbasis vor allem für Polster- und Fahrzeugkunstleder. Mit Kunden in über 50 Ländern belief sich der Umsatz im Jahr 2018 auf mehr als 39 Millionen Euro.

Götz senior sieht die Textilindustrie in den Neuen Ländern trotz des krassen Schrumpfkurses gut aufgestellt: „Die wenigen übriggebliebenen Firmen haben sich am Markt etabliert und sind vor allem durch die Spezialisierung auf technische Textilien gut aufgestellt.“ Das belegen auch Zahlen des vti: 2018 betrug der Gesamtumsatz der nord-ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie 1,87 Milliarden Euro; der Exportanteil lag bei 44 Prozent.

Titelbild: Einstige Lehrlingsausbildung im VEB Baumwollspinnerei Plauen / Quelle: Wolfgang Schmidt

Ronny Eckert

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