Textiler Nachwuchs

„Textil ist cooler als Medizin“

Wer heutzutage statt Jura, Lehramt oder Medizin etwas mit Textil studiert, erntet nicht selten ratloses Kopfschütteln. „Textil? Ist das nicht tot?“ – dass es lebendiger kaum sein kann, zeigen sechs Studentinnen der Hochschule Albstadt-Sigmaringen.

„Ich wollte eigentlich Medizin studieren, aber mein NC war nicht gut genug“, sagt Anna-Lena (oben, rechts). Rückblickend sei es das Beste, was ihr passieren konnte, versichert sie. Dank ihrer Passion fürs Stricken sei sie auf die Idee gekommen, „was mit Textilien“ zu studieren. „Heute finde ich Textil viel cooler als Medizin – damit wird ja auch unglaublich vielen Menschen geholfen, zum Beispiel mit gestrickten Herzklappen oder Aorten“, sagt sie. Das Problem: Außerhalb der Branche nehmen das selbst Experten aus Anwenderzielgruppen oft (noch) nicht wahr.

Wer so lacht, hat sich richtig entschieden: Anna-Lena mit der Vorderseite eines noch unfertigen Poloshirts

Wer so lacht, hat sich richtig entschieden: Anna-Lena mit der Vorderseite eines noch unfertigen Poloshirts

Auch Elen Judith (oben, zweite von rechts) bescheinigt all jenen, die Textil als „tot“ empfinden, ein Wahrnehmungsproblem. „Wir sind von mehr Textilien umgeben als von Autos, aber das Auto hat in Deutschland einen viel höheren Stellenwert – das ist schon etwas seltsam“, sagt sie. Eigentlich wollte sie nach ihrer Ausbildung zur Bekleidungstechnischen Assistentin Modedesign studieren, hat sich dann aber für den Studiengang Textil- und Bekleidungsmanagement entschieden. „Ich brauche Herausforderungen und Komplexität, deshalb wollte ich in die technologische Richtung gehen“, sagt Elen Judith.

„Mit Bügeln kann man retten, was verloren schien“, sagt Elen Judith. Wie mit der Textilindustrie: Viele hielten sie für verloren, doch das ändert sich gerade wieder

„Mit Bügeln kann man retten, was verloren schien“, sagt Elen Judith. Wie mit der Textilindustrie: Viele hielten sie für verloren, doch das ändert sich gerade wieder

Keine Sorgen um die Zukunft

Die beiden und ihre vier Kommilitoninnen Valentina, Katharina, Tatjana und Jasmin (oben von links nach rechts) sind zwischen 20 und 30, studieren an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen und haben sich ganz bewusst für eine textile Zukunft entschieden. An der von den Instituten für Textil- und Faserforschung Denkendorf mit Partnern gestalteten „Digital Textile Micro Factory“ sind sie dafür genau richtig. Sie soll dem Fachbesucher zeigen, wie Kleidung in Zukunft effizienter, nachhaltiger und digitaler produziert werden kann. Die verschiedenen Stationen reichen vom Digital Prototyping, bei dem das Kleidungsstück dreidimensional designt wird, über einen Virtual- und Augmented-Reality-Showroom, der „reale“ Händler-Meetings zur Begutachtung neuer Kollektionen überflüssig machen könnte, bis in die flinken Hände der sechs Textilstudentinnen, die die einzelnen Teile zu einem Poloshirt zusammenfügen.

„Es ist die optimale Symbiose aus High-End-Technologien und klassischem Textilhandwerk“, sagt ihr Prof. Christian Kaiser (oben, Mitte), der die Schwerpunkte 3D-Simulation, Augmented-/Virtual-Reality und Prozesskettendigitalisierung lehrt. Auf die Nachwuchssorgen der Textil- und Bekleidungsindustrie angesprochen, gerät Kaiser überraschenderweise ins Schwärmen: „Wenn ich sehe, mit welcher Begabung und Begeisterung meine Studierenden an das Thema Textil rangehen, mache ich mir überhaupt keine Sorgen um die Zukunft der Branche“, sagt er. Im Gegenteil: „Immer wieder überraschen sie mich damit, was mit Textil alles möglich ist“.

Ronny Eckert

Über Ronny Eckert

Mehr zu den Autoren

Zeige alle Beiträge von Ronny Eckert

0 Kommentare
1 Ping
  1. Sechs Ideen für eine textile Post-Corona-Perspektive – Texprocess Blog der Messe Frankfurt

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

*