Ein Ballon wie ein Strumpf

Es würde wohl niemand auf die Idee kommen, überschüssige Windenergie in einem Nylonstrumpf zu speichern. Und doch fährt ein kanadisches Start-up derzeit ein Pilotprojekt, bei dem ungenutzte Lüftchen in riesigen Unterwasserballons gespeichert werden sollen. Die sind aus Nylon, genau wie der Strumpf.

Ein Windrad produziert sauberen Strom – ein Windpark mit Hunderten von Windrädern produziert ganz schön viel sauberen Strom, vor allem dann, wenn der Wind über längere Zeit kräftig in die Rotorblätter bläst. Weil die Leitungen dadurch mit windgeblasenem Ökostrom regelrecht überschwemmt werden, müssen die Netzbetreiber manchmal ganze Anlagen vom Netz nehmen, um einen Blackout zu vermeiden. Das Problem: Überschüssige Windenergie lässt sich mit konventionellen Speichermöglichkeiten kaum zwischenlagern – also geht sie verloren.

Hin und her: Bläst der Wind kräftig, drücken Kompressoren Luft in die Unterwasserballons, flaut der Wind ab, geben diese die gespeicherte Luft an eine Turbine ab – et voilà: Strom / Quelle: Hydrostor

Hin und her: Bläst der Wind kräftig, drücken Kompressoren Luft in die Unterwasserballons, flaut der Wind ab, geben diese die gespeicherte Luft an eine Turbine ab – et voilà: Strom / Quelle: Hydrostor

Um das zu ändern, blickt das Team der kanadischen Firma Hydrostor derzeit regelmäßig auf den Grund des Ontariosees bei Toronto. Dort schwimmen seit Ende letzten Jahres sechs riesige, gut befestigte Unterwasserballons drei Kilometer vor der Küste in 55 Metern Tiefe. Sie ähneln jenen Ballon-Giganten, die zum Heben von Schiffswracks eingesetzt werden. Doch sind sie nicht gekommen, um zu steigen, sondern um zu bleiben. In friedvoller Nachbarschaft zu den kanadischen Fischen sollen sie dort in den nächsten zwei Jahren zeigen, ob sie als küstennahe Speicherlösung für Offshore-Windparks taugen. Von Vorteil ist dabei, dass die Ballons aus stabilem Nylongewebe bestehen.

Polyamid 6.6: sexy, aber sprachlich bedenklich

Aus dem gleichen Material wie der Strumpf, aber weniger sexy: Die Nylonballons der Firma Hydrostor auf dem Weg zum Grund des Ontariosees / Quelle: Hydrostor

Aus dem gleichen Material wie der Strumpf, aber weniger sexy: Die Nylonballons der Firma Hydrostor auf dem Weg zum Grund des Ontariosees / Quelle: Hydrostor

„Nylon ist eine ziemlich robuste, sehr reißfeste Faser, die bei solchen Unterwasservorhaben mit geringer Gasdurchlässigkeit und einem verminderten Wasseraufnahmevermögen punktet“, erklärt Dr. Frank Gähr, Forschungsleiter Textilchemie am Institut für Textilchemie und Chemiefasern Denkendorf. 1935 als erste voll synthetische Faser der Welt aus Polyamid 6.6 in den Laboren des US-Chemiekonzern DuPont entwickelt, startete die ursprünglich für Zahnbürsten gedachte Faser am 15. Mai 1940 ihre anziehende Karriere: An diesem „N-Day“ genannten Tag gingen in US-amerikanischen Städten innerhalb weniger Stunden Millionen Kunstfaserstrümpfe über den Ladentisch an Damen, die vormals nur Strümpfe aus Wolle oder Baumwolle kannten. Und weil „Schatz, ich trage heute die Polyamid-6.6-Strümpfe“ eher ausladend klingt, war er auch sprachlich geboren: der Nylonstrumpf.

Zurück zu den Nylonballons im Ontariosee. Die sind über eine Druckluftleitung mit einer Kompressor-Station an Land verbunden. Wirbeln die Windräder exzessiv Ökoenergie in die Leitungen, pressen Kompressoren Luft in die Unterwasserballons. Wegen des Wasserdrucks kann die hineingepresste Luft dabei stark komprimiert werden, ohne dass die Ballons Schaden nehmen. So lässt sich mehr Energie speichern. Wird der Wind indes schwächer und Energie benötigt, strömt die Luft aus den Ballons und treibt eine Turbine an, die – Strom erzeugt. Laut Unternehmensangaben könnten die sechs Nylonballons rund 330 Haushalte mit Strom versorgen. Künftig sollen sie Stromnetze küstennaher Städte stabilisieren helfen und gar ganze Inseln energieautark machen.

Hier finden Sie ein Video darüber, wie Hydrostor funktioniert und über das Projekt in Toronto.

Ronny Eckert

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