Das ist Spitze!
Beginnen wir mit einem kleinen Rätsel: Wer oder was verbirgt sich hinter folgenden Namen: Bargello, Richelieu, Ajour und Ebenseer? Kleiner Tipp: Mal auf das Foto schauen. Na, erraten? Was nach vier bisher unentdeckten Renaissance-Künstlern klingt, sind in Wahrheit verschiedene Arten einer traditionsreichen Textiltechnik: der Stickerei. Was die mit technischen Textilien zu tun hat? So einiges.
Die alten Chinesen, Inder und Ägypter haben es getan, die Griechen, Römer und Araber erst recht, ihnen folgten die Länder des europäischen Kontinents: Sie alle haben kunstvolle Verzierungen in Form von Spitze auf ihre Kleidung und Haushalttextilien aufgetragen, um diese zu individualisieren und optisch aufzuwerten. Als Sticken wird die Textiltechnik bezeichnet, bei der Trägermaterialien wie Stoffe durch Durchziehen oder Aufnähen von Fäden verschönert werden.

Gesticktes Spitzenmuster: Herstellung einer vollflächigen Stoffstickerei, die künftig ihr Spitzenpotenzial als Lingerie voll entfalten soll (W. Reuter & Sohn, Spitzen und Stickereien GmbH)
Doch ganz geschickt bahnt sich gestickte Spitze ihren Weg zunehmend auch in industrielle Bereiche. Das hat zwei Gründe. Erstens: Erst durch den Übergang von mühevoller Hand- und später auch Nähmaschinenarbeit zur modernen Produktionsweise konnte die Stickerei, deren Stärke in ihrer hohen Automatisierbarkeit liegt, ihr Potenzial in punkto Schnelligkeit und Wirtschaftlichkeit des Produktionsprozesses voll ausspielen. Zweitens: Sticken ist die einzige Textiltechnik, die es erlaubt, den Faden während der Herstellung in jede denkbare Richtung zu bewegen, statt etwa nur linear wie beim Weben. Das führt zu einer bestmöglichen Ausnutzung von Material und Fläche.
Kaum jemand kennt die Vorteile der Technik besser als die traditionsreichen Stickerei-Unternehmen rund um Plauen (Plauener Spitze®!), Chemnitz, Dresden und Leipzig. Einige von ihnen greifen das Industrieinteresse an „ihrer“ Technik auf und sticken derzeit mit Textilforschungsinstituten und weiteren Partnern im Rahmen des sogenannten Wachstumskerns „highSTICK plus“ an Anwendungen für Zukunftsmärkte. „Ziel eines solchen Kerns ist es, einen Technologiesprung in einem bestimmten Segment, in diesem Fall der Stickerei, herbeizuführen“, sagt Jens Mählmann, für Stickerei zuständiger Wissenschaftler am Sächsischen Textilforschungsinstitut e. V. (STFI).
Und es scheint ein Weitsprung zu werden: Mittlerweile reicht die erforschte sticktechnische Palette von Kunststoffteilen für den Automobilbau und Fußbodenheizungen über Verstärkungsstrukturen für Flugzeugfenster bis hin zu gestickter Beleuchtung sowie Sensorik-Systemen. Und am Horizont blitzt bereits das „Teshion“-Potenzial des Stickens auf: Neben ästhetischen Verzierungen könnte künftig auch Elektronik mittels elektrisch leitfähiger oder metallischer Fäden direkt auf die Kleidung gestickt werden.
Für alle, die sich während der kommenden Techtextil über die Renaissance der Stickerei (was für ein Bogen) informieren oder einfach nur mal „Das ist Spitze!“ rufen wollen, ohne schief angeguckt zu werden, empfiehlt sich ein Besuch am Gemeinschaftsstand des Wachstumskerns „highSTICK plus“.
Bild oben:
Gestern Föhn, heute schön gekrümmt und gebogen: „klassisches“ Heizelement eines Haartrockners vor dem virtuellen Versuchsmuster eines „gestickten“ Thermoelements (Quelle: STFI)